Dein Raum und mein Raum im Unterrichtszimmer
von Claudia Straube
Liebe Kollegen und Kolleginnen
Ich möchte heute mit Euch einige Gedanken teilen zu Nähe und Distanz im Instrumentalunterricht.
Den Ausschlag dazu gaben mir eine Reihe von Beobachtungen, die ich während Unterrichtsbesuchen als Schulpraxisberaterin machte. Ich erlebte Situationen mit, die ich als unpassend und persönlich unangenehm empfunden habe, z.B. Lehrpersonen, die sehr nah an einem Kind sitzen oder ungefragt in den Raum des Kindes eingreifen, indem sie z.B. Fingerstellungen manuell korrigierten. Auf mein Nachfragen dazu reagierten die Kolleginnen jeweils überrascht und waren sich ihres grenzüberschreitenden Verhaltens nicht bewusst.
Die Beziehung zwischen Instrumentallehrperson und Kind braucht im vis-a-vis des Einzelunterrichts ein besonderes Mass an Empathie und Zugewandtheit. Genauso wichtig ist es, eine professionelle Distanz zu wahren und soziale Interaktionen immer im Sinne einer förderlichen Arbeitsbeziehung einzusetzen. Als Lehrperson sorge ich dafür, dass die Lernende ausreichend Raum und Zeit erhält, sich zu orientieren und arbeitsfähig zu sein. Für die Sicherheit des Kindes ist es wichtig, geplante interaktive Inhalte anzukündigen und bevor ein körperlicher Kontakt erfolgt, beim Kind nachzufragen.
Mit diesen Gedanken möchte ich Euch, liebe Leser und Leserinnen, für ein wichtiges Thema in der Entwicklung jedes jungen Menschen sensibilisieren, ohne zu bewerten oder zu verurteilen. Denn unser eigener Umgang mit Nähe und Distanz basiert auf den persönlichen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend. Man sollte sich selbst einmal hinterfragen: Mit welcher räumlichen Distanz zum Kollegen oder zur Kollegin ist es mir wohl bei einer dienstlichen Besprechung? Welchen freien Platz suche ich mir in einem Kurs aus oder im Tram? Worüber spreche ich nicht gern mit aussenstehenden Personen?
Meine professionelle Haltung, mein Berufsauftrag
Als Instrumentallehrpersonen sind wir nicht nur für die musikalische Ausbildung, sondern auch für das körperliche und seelische Wohlbefinden unserer Schülerinnen und Schüler verantwortlich. Lernende befinden sich generell in einem Abhängigkeitsverhältnis zur lehrenden Person. Minderjährige Lernende stehen dabei unter besonderem Schutz. Sie verfügen weder über die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten, übergriffige Situationen zu erfassen und zu beschreiben, noch über ausreichende soziale Erfahrungen und emotionale Sicherheit. Aus diesen Gründen ist es wichtig, das Kind besonders mit seinen nonverbalen Signalen wahrzunehmen sein Verhalten im Raum aufmerksam zu beobachten. So kann ich seine autonomen Bedürfnisse erkennen und respektieren. Als Professionelle haben wir die Fürsorgepflicht und gewährleisten physische und psychische Integrität.
Welche Art Distanz ist unbedingt nötig, damit sich der junge Mensch mit mir im Unterrichtszimmer wohlfühlen kann? Wo beginnt mein persönlicher Raum? Wie respektiere ich den persönlichen Raum des Kindes?
Fragen aus der Praxis:
Wie sind die räumlichen Verhältnisse in deiner Schule? Bietet dein Unterrichtsraum ausreichend Platz zum Arbeiten, Musizieren und Ablegen von persönlichen Dingen? Wo legen jeweils die Schüler ihre Sachen ab? Bleibt noch Platz, sich dazwischen frei zu bewegen zu können?
Arbeitsplatz: gemeinsam an einem Notenpult spielen oder hat jeder sein eigenes Notenpult vor sich? Wie weit ist die räumliche Distanz?
Ein Mass für den eigenen zum eigenen Raum gehören: das eigene Instrument, eigene Hefte und Zubehör und andere persönliche Dinge.
Als Lehrerin oder Lehrer frage ich nach, wenn ich diesen Raum betreten möchte.
Beispiele für Nachfragen:
"Darf ich dir den Stuhl tiefer einstellen?" (Schülerin geht zur Seite)
"Ist es ok, wenn ich deine Gitarre nehme zum Nachstimmen?"
"Bist du einverstanden, wenn ich dir zum Markieren diesen Klebepunkt auf dein Griffbrett mache?"
"Ist es ok, wenn ich die Lagenbezeichnung in deine Noten einschreibe?"
Diskussion: Körperliche Nähe
Sind Berührungen grundsätzlich zu vermeiden?
Unter welchen Bedingungen findest du es zulässig, Finger, Hände, Bein … des Kindes zu berühren?
Beispiel: Haltung am Instrument oder Fingerstellung korrigieren
Möglich ist: Korrekturen an sich selbst zeigen, in grossen Bewegungen, die immer differenzierter werden und schliesslich in der gewünschten Technik enden. Anschliessend fragen, ob er/sie es auch einmal so versuchen möchte und mit Erläuterungen anleiten.
Beispiel: Nonverbale Signale beachten
Wenn ich beobachte, dass sich das Kind in weiter Distanz zu mir bewegt, werde ich sein Verhalten respektieren und ihm diesen Raum lassen.
Weicht ein Kind schon bei der Begrüssung aus oder vermeidet Blickkontakt, werde ich mich räumlich auf Abstand halten und es besonders aufmerksam beobachten.
Thema Anschlagsqualität
Möglich: Was denkst du über deinen Anschlag? Willst du einmal deine Fingernägel kontrollieren? Ich zeige dir an meiner eigenen Hand, wie ich meine Nägel feile.
Ausser der räumlichen und körperlichen Nähe wäre es auch wichtig, über soziale und emotionale Nähe zu diskutieren.
Negative Kommentare oder persönliche Abwertungen von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen sind als verbale Übergriffe zu benennen und zu ahnden. Ich habe als Professionelle immer die Pflicht, auffälligen Beobachtungen nachzugehen und bei Verdacht auf übergriffiges Verhalten jeder Art gegenüber Schutzbefohlenen, die Schulleitung zu informieren.
Ich möchte Euch einladen, mitzudiskutieren: Was sind Deine Erfahrungen im Unterricht? Was ist Dir wichtig zum Thema Nähe und Distanz? Wie nutzt du die räumlichen Möglichkeiten an deiner Schule? Schreib gerne einen Kommentar an claudia.straube@egta.ch
Zum Schluss: Andere Erfahrungen als anfangs beschrieben, durfte ich mit Studierenden im Praktikum machen. Unsere jungen Berufsleute bewegen sich ausnahmslos bewusst in räumlicher Distanz und streben nach transparenter und wertschätzender Kommunikation. Das sind gute Aussichten für alle gitarrenbegeisterten Kinder! :)