Zwischen Disziplin und Leichtigkeit 

Von Patrick Hinsberger 

Wie wir gut üben

Seit vier Jahren darf ich einmal im Monat mit anderen Musikerinnen und Musikern in meinem Podcast „Wie übt eigentlich..?“ über ihr Üben sprechen. Darunter Solisten wie der Trompeter Simon Höfele, die Gitarristin Émilie Fend, Orchstermusiker*innen wie Annemarie Gäbler, Hochschulprofessor*innen und Menschen aus Forschung und Wissenschaft. In über dreissig Folgen traten dabei die unterschiedlichsten Definitionen von musikalischem Fortschritt ans Tageslicht. So verschieden wir alle als Person sind, so unterschiedlich interpretieren wir eben unser tägliches Üben. Gleichzeitig habe ich beobachtet, wie sehr sich bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen dennoch wiederholen. Von diesen Erfahrungen möchte ich gerne berichten.  

Es wäre vermessen das komplexe Feld des musikalischen Übens auf ein paar einfache Aspekte herunterzubrechen. Entsprechend können die folgenden fünf Punkte nur eine Einladung sein, weitere Verbindungen zu identifizieren. Ich glaube aus meiner Erfahrung heraus aber dennoch, dass sich mit ihnen eine „Definition“ des Übens entwickeln lässt. 

1. Wie viel Zeit braucht musikalischer Fortschritt? 

Es ist wahrscheinlich die einzige Gewissheit beim Üben: Ohne Investieren von Zeit kein Fortschritt. Auch wenn man sich in der Forschung inzwischen einig darüber ist, dass die „10.000 Stunden“ Regel von Ericsson in einigen Punkten nicht haltbar ist, so besteht kein Zweifel darüber, dass wir regelmässig üben sollten, um weiterzukommen. Dabei lassen sich grundsätzlich unterschiedliche Blicke auf die Zeit werfen:  

Da wäre zum einen die Makro-Ebene – also Üben im Laufe unserer musikalischen Biographie. In dieser Dimension blicken wir auf das Üben als wiederkehrende, regelmässige Tätigkeit, die – entsprechend unseren Herausforderungen und der uns zur Verfügung stehenden Zeit – sich im Laufe der Zeit anpasst und verändert. Zum anderen, betrachtet man die Mikro-Ebene, lässt sich Üben auf die verschiedenen Übe-Blöcke pro Tag und der grossen Frage im Instrumentalunterricht „Wie lange muss ich üben?“ herunterbrechen?  

Damit einher geht meist die Frage: Wann habe ich genug geübt? und Wie viele Wiederholungen reichen aus? Es sind bekanntlich die einfachen Fragen, die uns vor die grössten Herausforderungen stellen. Denn eine allgemeingültige Antwort gibt es hierauf nicht. Im Podcast verriet Prof. Dr. Eckart Altenmüller, dass die Faustregel 7-14 Mal wiederholen empirisch schwer zu beweisen ist. Entsprechend schwierig ist es, eine wissenschaftlich zufriedenstellende Antwort zu formulieren. Sein Tipp: "Mein Vorschlag wäre daher, die einschlägigen Künstler*innen zu befragen, wie sie üben, und dies dann als Modell zu nehmen. Ich glaube das Entscheidende ist, das Gehör auszubilden und die künstlerischen Konzepte." 

Wenngleich der Faktor Zeit nur ein Teilaspekt des Deklarativen Wissens ist, so ist das Wissen um die Fragen wie und wie häufig führe ich eine Übung aus, essenziell für unser musikalisches Weiterkommen. Als Lehrperson kann es manchmal schwierig sein, abzuwägen inwiefern man dieses „wissenschaftliche Dilemma“ seinen Schüler*innen offenbart. Je nach Charakter und Alter kann es unter Umständen von Vorteil sein, ein paar konkrete Vorschläge zu machen. 

2. Der Körper als Partner 

Musik wird körperlich wahrgenommen. Nicht nur beim Hören (in z.B. Rhythmik und Metrik), sondern auch in Resonanz mit unserem Instrument. Der Musikpädagoge Prof. Dr. Ulrich Mahlert spricht hier davon, dass je mehr das Lernen von musikalischen Kompetenzen mit körperlicher Sensibilisierung und dem Erspüren von Analogien einhergeht, desto produktiver erfolgt das Üben von Musik. Diese „Körperintelligenz“ wird quasi zur Meta-Aufgabe beim Üben.  

Üben könnte man danach als Akt des Forschens verstehen. Wir beobachten, probieren, erfassen Strukturen, stellen Fragen, wiederholen oder verwerfen Konzepte wieder. Gerade im Hinblick darauf, dass wir als Lehrpersonen Schülerinnen und Schüler oftmals nur eine Stunde pro Woche sehen, ist die Ausbildung dieser Fertigkeit essenziell. 

3. Immer gleich – immer anders 

Der wohl grösste (vermeintliche) Widerspruch beim Üben besteht zwischen den beiden Polen Abwechslung und Wiederholung. Der Routine-Aspekt beim Üben war bei all meinen Interviews deutlich. Peter Laib, Tubist bei Moop Mama und Ernst Hutter & die Egerländer Musikanten, formulierte es sogar so: „Üben heißt für mich immer das Gleiche tun.“ Gerade von einem solchen Realitätscheck (meist am Anfang des täglichen Übens) berichteten viele meiner Gäste. 

Dem gegenüber steht das Prinzip der Variation und Abwechslung. Gerade vom Sport kann sich die Musik hier stark inspirieren lassen. Prof. Dr. Wolfgang Schöllhorn stellte im Podcast seine Theorie des Differenziellen Lernens vor (u.a. Teil der Trainingsmethoden des FC Barcelonas und des Fußball-Trainers Jürgen Klopp). Demnach lernt unser Körper nur an Unterschieden. Er fand heraus, dass unser Körper eine Bewegung gar nicht zu 100% kopieren kann – entsprechend zwangsläufig scheint die Notwendigkeit zur Variation (Anmerkung: Die Theorie wird oft falsch interpretiert, da nur wenig Literatur darüber existiert. Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken, dass man auf gar keinen Fall nur auf diese Art und Weise üben sollte, da sich sonst nicht der gewünschte Effekt einstellt). 

Stellt man sich den Prozess des Lernens eines Musikstücks wie einen Diamanten vor, so könnte man sagen, dass an seiner breitesten Stelle eine Vielzahl von Methoden, Ideen und Variationen unser Üben leiten sollte. Kreative Ideen hierzu berichtet Susan Williams (z.B. Gegensätze üben, Artikulationsarten und Rhythmik variieren), als sie Gast im Podcast war. Im Unterricht kann man aber auch eigene Spielkarten mit Schüler*innen entwickeln, die man dann in zufälliger Reihenfolge auswählen kann, um das Üben abwechslungsreich zu gestalten. 

4. Was uns wirklich motiviert 

Wir alle machen Musik, weil es uns Freude macht. Besonders stark empfinden wir diese Freude, wenn wir uns den Aufgaben gewachsen fühlen. In der Psychologie unterscheidet man hier zwischen Erfolgs- und Misserfolgsmotivierten Personen. Während die erste Gruppe sich ihre Ziele knapp über dem bisherigen Leistungsstand sucht und daran wächst, übernehmen sich Misserfolgsmotivierte Personen oftmals an zu schweren Aufgaben oder wagen das Risiko gar nicht und suchen sich zu leichte Aufgaben.  

Als Lehrpersonen wissen wir sehr gut, was die nächsten Schritte für unsere Schülerinnen und Schüler sind. Das Ausbilden dieser Fähigkeit im Unterricht (durch z.B. Forschendes Üben) halte ich für ganz wichtig. Vor einigen Jahren sorgte die Netflix-Serie „Damengambit“ für einen großen Schach-Hype. Ich ziehe seitdem gern den Vergleich zur Elo-Zahl. Damit vergleicht man im Schach unterschiedliche Spielniveaus und versucht damit Ausgangssituationen in Partien fair zu gestalten. 

Finden wir Aufgaben in diesem Sweet-Spot (also mit unserer passenden Elo-Zahl), fällt es uns auch leichter in einen Flow-Zustand zu kommen. Für mehr Informationen zu diesem Thema empfehle ich die Literatur von Andreas Burzik. 

5. Die Kunst der Selbstbeobachtung 

In meiner dritten Folge durfte ich mit dem Saxofonisten der HR-Bigband, Steffen Weber, sprechen. Neben seiner spielerischen Klasse fand ich es zudem bemerkenswert, wie reflektiert und umfangreich er über sein Üben nachdenkt. Üben heisst für ihn „Spass haben und meinem Ziel ein Stück näherkommen: Nämlich das rauszuholen, was rauszuholen möglich ist. Bei mir persönlich natürlich. Und irgendwann zu merken, dass es einen Schritt weiter gegangen ist. Das merkt man ja immer erst eine Weile später.“ 

Ich zitiere diese Antwort sehr oft und gerne, weil sie so viele Aspekte eines optimalen Übens beinhaltet. Ein Punkt sticht dabei besonders heraus und umklammert sozusagen alle vorherigen: Es ist die Fähigkeit über sein eigenes Üben, seine Ansprüche und die Resultate kritisch nachzudenken. Diese Mündigkeit, oder metakognitives Lernen, halte ich für eine notwendige Bedingung für produktives Üben. In den zahlreichen Interviews mit anderen Musikerinnen und Musikern, kristallisierte sich diese Kompetenz immer wieder als das zentrale Element heraus. Als Lehrperson befähigen wir damit unsere Schüler*innen für unterschiedliche Aufgaben die passende Strategie zu finden.  

Ein Musikstück zu üben, geht weit über das blosse Einstudieren von korrekten Noten und ihren Werten hinaus. Es heisst auch immer sich selbst zu üben. Wenn man so möchte, ein ständiger Reflexions- und Weiterentwicklungsprozess. Denkt man an Sisyphos, der jeden Tag dazu verdammt war, einen Stein den Berg hinaufzurollen, könnte man in der blossen, sich wiederholenden Tätigkeit eine Schwere vermuten. Aber schon Albert Camus regte uns dazu an, sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen. Wenn man also Üben nicht nur als das blosse (wenn auch sich variierende) Wiederholen betrachtet, sondern als tägliche Chance auf Wachstum, setzt dies ungeahnte Kräfte frei. 

 

Ein Blick hinter „Wie übt eigentlich..?“ 

In meinem Podcast "Wie übt eigentlich..?" spreche ich einmal im Monat mit anderen Musikerinnen und Musikern über das, was abseits des Scheinwerferlichts und der grossen Bühnen passiert: Üben.  

Wir sprechen ehrlich über Höhen und Tiefen aus ihrem Musiker*innen-Alltag und schauen gemeinsam mit Menschen aus der Wissenschaft darauf, was gutes und gesundes Üben ausmacht.  

Jeden Freitag um 11 Uhr gibt es auf meinem Steady-Kanal einen praktischen Übe-Tipp zum sofort Umsetzen direkt ins Mail-Postfach. Link: https://steadyhq.com/wie-uebt-eigentlich - Einfach kostenlos für den Newsletter anmelden und jede Woche einen neuen Tipp erhalten. 

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